Die Frühaufsicht
Frühaufsichten, also die Aufsicht vor Beginn des Unterrichts, sind eine der vielen Pflichten, die zum Lehrerberuf gehören. Diese finde ich persönlich gar nicht so übel, kann man dabei doch die lieben Kinder und Kollegen in – noch – entspanntem Gemütszustand erleben.
Da drüben treffen sich Freundinnen – wie nach langer Zeit – sich theatralisch umarmend wieder und beginnen sofort die wichtigsten Neuigkeiten, seit sie sich gestern das letzte Mal gesehen haben – trotz neuester Technik wie Smartphone und Co –, in dringlichstem Tonfall und mit viel schrillen Tönen und Gekicher auszutauschen. Natürlich treffen sich auch Freunde wieder – aber viel cooler im Umgang miteinander. Bei diesen reicht ein einfaches Abklatschen, verbunden mit einem „Na, Alter?“, worauf der Angesprochene lapidar antwortet: „Läuft!“ Warum auch mehr sagen, wenn schon alles gesagt ist?
Herzberührend sind vor allem die romantischen Wiederbegegnungsrituale der jungen Verliebten, die sich endlich – meist abseits der großen Begrüßungsgruppen – nach einer Nacht voller Sehnsucht wieder in die Arme schließen können. Dabei stellt der unbeteiligte Beobachter immer wieder schmunzelnd fest, dass diese Umarmungen so eng sind, als würden sich die beiden brennenden Herzen nicht in einer innig zärtlichen Umschließung befinden, sondern gemahnen in ihrem Gebaren eher an zwei ineinander verschlungene Schlangen, die sich gegenseitig Luft aus den Lungen pressen oder mittels ihrer Münder aussaugen wollen.
Andere Schülerinnen und Schüler nutzen die letzten ruhigen Minuten vor dem Unterricht noch dazu, die Arbeiten, welche schon seit einer Woche oder länger in häuslicher Stille von ihnen anzufertigen gewesen wären, nun noch in größter Eile von einer/einem der weniger vergesslichen beziehungsweise fleißigen Schüler/innen in kürzestem Telegrammstil zu kopieren. Profis unter den Kopierern haben natürlich den Bogen raus, diese Kopierleistung jeden Morgen mit allen für den anstehenden Unterricht abzugebenden Hausaufgaben zu vollziehen.
Einige wenige ziehen sich in einen der raren stillen Winkel zurück, um dort die letzten leisen Minuten für sich allein zu haben. Es sollen dort angeblich auch schon einzelne Schülerinnen und Schüler beim ernsthaften Wiederholen der Vokabeln oder der Schließung der letzten Wissenslücken vor einer Arbeit gesehen worden sein. Sichere Daten für diese Beobachtungen konnte man aber dazu bisher noch nicht erheben.
Alles in allem ist es also ein durchaus entspannter Beginn des Schultages.
Aber nicht für alle.
Für die Kollegin Barbara Beuld-Indür ist diese frühe Stunde jedes Mal von purem Stress gekennzeichnet. Schon allein das Einparken ihres – ihrer Meinung nach – viel zu großen fünfzehn Jahre alten Opels Corsa, welches in dieser Schule auf dem Lehrerparkplatz immer rückwärtsgerichtet gegen ein halb hohes Mäuerchen erfolgen muss, ist für sie jeden Morgen ein schweißtreibender Kraftakt, der ihr Nervenkostüm jedes Mal arg strapaziert. Als noch schlimmer empfindet sie das Abstellen ihres Fahrzeugs auf den gekennzeichneten Stellflächen entlang der an das Schulgelände angrenzenden Straße. Weil sie meistens zu spät dran ist. Dort parken nämlich schon die Kolleginnen und Kollegen, denen das notwendige Gezirkel am Mauerparkplatz auch zu nervig oder dort schon alles besetzt ist. Sollte also der seltene Fall eintreten, dass sie zu spät kommt – und das tut sie regelmäßig –, dann kann man einem außergewöhnlichen Ballett zusehen. Diese Choreographie für Lenkkunst, Kraftfahrzeugaußenmaße, Bordsteinkante und Eltern-Schüler-Taxiverkehr folgt dabei ihren eigenen Regeln.
Das Präludium bildet die – weil wieder mal zu spät – rasante Ankunft Beuld-Indürs. Suchend, den Kopf über das Lenkrad reckend, erspäht sie durch die vor ihr wimmelnden Massen der Eltern-Schüler-Taxis eine noch freie Parklücke am Straßenrand vor ihr. Der Motor heult gepeinigt auf – man ist zu spät dran, also muss es schnell gehen – und Barbara Beuld-Indür schießt in einem viel zu steilen Winkel in die Parklücke hinein, wobei sie von dem blöden Bordstein nicht an der Weiterfahrt gehindert wird. Eine Parklücke hat sie nun. Aber noch ragt das Heck ihres Fahrzeugs verkehrsbehindernd in die Straße hinein und die Vorderräder stehen auf dem Gehweg. Also den ungeliebten Rückwärtsgang geräuschvoll einlegen und mit Schwung – ohne einen Blick nach hinten riskierend – wieder ein Stück zurücksetzen. Dabei blockiert sie jetzt beide Fahrspuren. Der Fahrer des hinter ihr befindlichen Wagens, der nur durch eine filmreife Vollbremsung eine fatale Kollision verhindern konnte, wischt sich den Angstschweiß von der Stirn. Barbara Beuld-Indür zeigt schon 1. n Nerven und schimpft auf den aufdringlichen Menschen hinter ihr, der sich erdreistet, sie so zu bedrängen. Das Lenkrad kurbeln. Gas geben. Und wieder in die Lücke schießen – mit einem kaum steileren Winkel als zuvor. Wieder steckt der Wagen in der Parklückenfalle.
Also noch mal korrigieren.
Hektisch und krachend den Gang rein. Gas gebend röhrt der Kleinwagen wieder zurück. Im Wagen hinter ihr betet der Fahrer um die Vermeidung von Beulen und Kratzern – er kann den Fahrkünsten dieser Frau nicht mehr rückwärts ausweichen. Denn hinter ihm hat sich jetzt eine Schlange von fünf weiteren großformatigen Boliden gebildet, die wegen des auf der Gegenfahrbahn zähfließenden Eltern-Schüler-Taxiverkehrs diese Parkchoreographie nicht umfahren könnten. Sie sind ebenfalls in die Parkfalle gegangen.
Frau Barbara Beuld-Indür indessen hat – den durch die vorherige Vollbremsung des geschockten Schülervaters entstandene Freifläche voll ausnutzend – ihr Auto nun parallel zum hinter der Stellfläche schon parkenden Fahrzeug bugsiert. Wieder heult der Motor auf …
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Freuen Sie sich auf mein nächstes Buch!